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In Europa müssen die Zinsen nicht viel weiter steigen


09.03.23 11:25
Columbia Threadneedle

Frankfurt (www.anleihencheck.de) - Man sagt, dass Not erfinderisch macht, und Europa hat seine Abhängigkeit von russischem Gas rasch reduziert, so Paul Doyle, Head of Large Cap European Equities bei Columbia Threadneedle Investments.

Angesichts der explodierenden Preise hätten die privaten Haushalte weniger geheizt, um Energie zu sparen, während die Unternehmen weniger Gas verbrannt, die Produktion aber dennoch aufrechterhalten hätten. Europa habe außerdem Glück gehabt, dass der Winter mild gewesen sei. Um die Lieferprobleme zu bewältigen, habe Deutschland die ersten fünf schwimmenden Terminals für verflüssigtes Erdgas (LNG) gebaut (1) und erstmals überhaupt ströme Gas aus Norwegen nach Polen (2).

Die unmittelbare Krise verliere an Schärfe, sodass die Gaspreise stark gesunken seien. Dies dämpfe die Inflation und gebe dem Geschäftsklima Auftrieb - allesamt positive Faktoren für Aktien. Die Inflation in Europa hab aus den pandemiebedingten Lieferschwierigkeiten resultiert, die durch die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine verschärft worden seien. Columbia Threadneedle Investments erwarte, dass sich die Verbraucherpreisinflation bis zum Jahresende auf 3% bis 4% abschwäche, was der europäischen Wirtschaft zugutekommen würde.

Längerfristig werde die Inflation nach Meinung von Columbia Threadneedle Investments nicht wieder auf Niveaus im Bereich von 2% sinken, wie wir es seit 20 Jahren gewohnt seien. Columbia Threadneedle Investments sehe sie eher bei etwa 4%. Gründe dafür seien unter anderem: ein Mangel an Rohstoffen nach jahrelang niedrigen Investitionsausgaben, die Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft nach Covid-19, die alternde Bevölkerung in Europa, Europas Subventionen für die grüne Wende, die Deglobalisierung sowie die militärischen Spannungen in Europa. Dies alles werde zu höheren Anleiherenditen und einer größeren Marktvolatilität führen - und mithin zu niedrigeren Kurs-Gewinn-Verhältnissen (KGVs) als in der Vergangenheit.

Durchwachsene Signale zur Stärke der Wirtschaft

Es gebe Anlass zur Hoffnung in Europa, allerdings seien die Signale durchwachsen. Der beste Frühindikator sei die Geldmenge, die anscheinend weiter sinke. Wenn die Inflation, wie von Columbia Threadneedle Investments erwartet, nachgebe, werde die Nachfrage anziehen. In Europa bestehet eine erhebliche potenzielle Nachfrage nach Gebrauchsgütern. In den USA sei die Nachfrage indes schon jetzt höher als vor Covid-19.

Ebenfalls positiv wirke sich das Ende der Null-Covid-Politik in China aus. Europa liefere 8% seiner Exporte nach China (3), mehr würden dort nur die südostasiatischen Länder absetzen. Sobald die Zahl der Covid-19-Infektionen in China sinke und die Verbraucher wieder reisen würden, würden sie auch mehr Geld ausgeben. Die Lieferkettenprobleme würden abnehmen und die stärkere Nachfrage in China werde den Abwertungsdruck auf den Renminbi reduzieren. Auch das komme Europa zugute. Die Sektoren in Europa mit dem stärksten China-Engagement seien Halbleiter, Grundstoffe, Luxusgüter, Energie und Autos. China habe einen Anteil von einem Viertel an der Halbleiter- und von 16% an der Luxusgüternachfrage (4).

Bewertungsabschlag größer denn je

Bei Aktien würden die Bewertungen (unter anderem in Europa) nach den Kursrückgängen im Jahr 2022 nun angemessen erscheinen. Der Bewertungsabschlag von europäischen gegenüber US-Aktien sei größer denn je. Die KGVs auf Basis der geschätzten Gewinne der nächsten zwölf Monate lägen bei 10x in Europa und 17x in den USA5. US-Unternehmen seien zwar möglicherweise rentabler als andere, jedoch würden eine stärkere Konjunktur in China und ein schwächerer US-Dollar die Bewertungen außerhalb der USA steigen lassen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass europäische Aktien in diesem Jahr Verluste verzeichnen würden, werde dies an einem Rückgang der Gewinne liegen.

Die Besonderheit der USA

Das Besondere an der US-Wirtschaft sei die Tatsache, dass sie höhere Zinssätze verkraften könne als die Wirtschaften anderer Länder. Grund sei der neutrale Zinssatz, der in den USA am höchsten sei. Bei dieser Kennzahl handele es sich um den Zinssatz, der sich aus der Höhe der Investitionen ergebe, die ein Land mit seinen Ersparnissen tätige. Alles, was die Ersparnisse verringere oder die Investitionen erhöhe, werde den neutralen Zinssatz steigen lassen.

In den USA sei der neutrale Zinssatz seit der globalen Finanzkrise niedrig gewesen: Die privaten Haushalte und die Unternehmen hätten Schulden abgezahlt, was eine Sparwut ausgelöst habe, durch die der Preis des Geldes gesunken sei. Die Globalisierung und die extrem hohen Ersparnisse in anderen Teilen der Welt hätten dies zusätzlich verstärkt. Doch diese Entwicklungen hätten sich nun umgekehrt, sodass der neutrale Zinssatz steige. Durch die alternde Bevölkerung steige der Abhängigenquotient - das Verhältnis der Anzahl von Personen, die nicht im Erwerbstätigenalter seien, zur Anzahl von Personen im Erwerbstätigenalter. Deshalb werde die Produktionsmenge relativ zu den Ausgaben sinken; dies treibe die Inflation an.

Die Zinskosten für die US-Regierung - wie auch für andere Regierungen - würden sich erhöhen, vielleicht sogar auf Niveaus wie zu Beginn der 1990er-Jahre. Längerfristig würden höhere Kapitalkosten das systemische Risiko in den Volkswirtschaften und an den Kapitalmärkten verringern, weil Fremdkapitaleinsatz und Fehlallokationen von Kapital vom Markt bestraft würden. Der Krieg in der Ukraine dürfte unterdessen die Investitionen in erneuerbare Energien beschleunigen und mithin der Produktivität in Europa positive Impulse geben.

Kurzfristig bestünden die Risiken für die Kurse von US-Anlagen (Aktien und Anleihen) weiterhin, weil durch die nachlassende Inflation die realen Löhne steigen würden. Das nominale Lohnwachstum werde wegen der angespannten Lage am US-Arbeitsmarkt der Inflation hinterherhinken. Höhere Reallöhne würden die Konsumausgaben antreiben, sodass die Konjunktur überhitzen könnte - was gefährlich wäre, weil die US-Notenbank dann gezwungen sei, die Zinsen wieder anzuheben. Aktien würden darauf nicht gut reagieren.

Inflationsrisiken würden abnehmen

Columbia Threadneedle Investments erwarte nicht, dass die Europäische Zentralbank die Zinsen so stark anheben werde, wie der Markt dies erwarte. Der neutrale Zinssatz in Europa sei niedrig - viel niedriger als in den USA. Europas Wirtschaft sei zu labil, um solche Zinserhöhungen wie jene der US-Notenbank zu verkraften. Der neutrale Zinssatz in Deutschland liege bei rund 0%, und in Italien sei er negativ. Deutschland könnte einem Zinssatz von 2,5% gewachsen sein, Italien nicht.

Alles in allem sei die Inflation in Europa durch einen angebotsseitigen Schock verursacht worden, eine Lohn-Preis-Spirale habe jedoch verhindert werden können. Die Zinsen müssten in Europa nicht so stark steigen. Das bedeute, dass die Aktienkurse noch Aufwärtspotenzial hätten.

(1) Reuters, Germany says fifth floating LNG terminal to be built by end of 2022 (Deutschland: Fünftes schwimmendes LNG-Terminal soll Ende 2022 fertig sein), 19. Juli 2022
(2) Euronews, Norway-Poland gas pipeline opens in key move to cut dependency on Russia (Eröffnung der Pipeline Norwegen-Polen wichtiger Schritt zur Unabhängigkeit von Russland), 27. September 2022
(3) Morgan Stanley Research, Stand: Juni 2022
(4) Morgan Stanley Research, Stand: Juni 2022
(5) Bloomberg, Stand: Februar 2023 (09.03.2023/alc/a/a)